Die Hirnforschung brachte ans Licht, dass unser Denkorgan in verschiedene Zonen geteilt ist und diese jeweils durch unterschiedliche Reize aktiv werden. LeserInnen von Literatur bringen ihr Gehirn zu Höchstleistungen, weil Literatur – im Gegensatz zu Fachbüchern – den ganzen Denkapparat in Gang setzt. Wer also im Urlaub mit einem Roman in der Hängematte liegt und liest, ist äußerst rege und auf keinen Fall als FaulenzerIn zu bezeichnen. Vorausgesetzt man trotzt der Gefahr des Einschlafens. Die ist sicherlich bei der Lektüre des Buches „Reisebericht eines T-Shirts“ nicht gegeben. Pietra Rivoli lehrt Wirtschaft an der Georgetown University in Washington DC. Sie schrieb aus einem trockenen Stoff einen unglaublich spannenden „Reisebericht“, der sicher alle Gehirnzonen beschäftigt. Beginnend auf den Baumwollfeldern von Texas, führt er zu den Spinnfabriken Shanghais, von da zurück in die USA, um schließlich am Markt für Secondhand-Kleidung in Tansania zu enden. Ein Drama, das laut New York Times alle Anlagen eines Wirtschaftsklassikers zeigt.
Ein Drama der anderen Art spielt sich in Bosque, einer verschlafenen Kleinstadt irgendwo in Argentinien ab. Vier Männer rauben die Bank aus – und werden für die Bevölkerung zu Freiwild erklärt. Ohne Übertreibung: Antonio Dal Masetto hat mit „Noch eine Nacht“ einen meisterhaften Roman geschrieben, der auf höchstem Niveau unterhält. Ohne zu psychologisieren schildert er menschliche Abgründe, die beim Lesen die Gänsehaut aufsteigen lassen, und trotzdem schimmert ein feiner Humor durch.
Die Erzählungen des jungen Rattawut Lapcharoensap sind ein literarisches Kleinod. Warmherzig und humorvoll, fernab von Klischees, führen sie durch ein Thailand, wie es nicht in Tourismuskatalogen beschrieben ist. Er erzählt von der Musterung zum Militär, die eine Freundschaft zerbrechen lässt; vom kambodschanischen Flüchtlingsmädchen, das seinen letzten Besitz als Freundschaftsbeweis seinen thailändischen Freunden schenkt …
In die gleiche Kategorie – literarisch, ein Land betreffend (in diesem Fall Afghanistan) und ebenfalls ein Debut – fällt Khaled Hosseinis „Drachenläufer“. Der Roman ist die Geschichte der innigen Freundschaft zwischen Hassan und Amir, die von Amir auf schreckliche Weise verraten wird. Gleichzeitig ist er Geschichte eines Landes, das zuerst durch einen Stellvertreterkrieg und dann von einem intoleranten Regime an den Rand des Abgrunds gedrängt wird. Wenn die Phrase von einem Werk, das „einen-tiefen-Blick-in-Kultur-und-Alltag-eines-Landes-gewährt“ zutrifft, dann für dieses Buch. Dabei schließt es trotzdem die ganze Welt ein.
Und für alle, die ihre Augen schonen oder ihre Hände für Dinge wie Sandburgbauen frei haben wollen, empfehle ich zwei Hörbücher: „Ein perfektes Leben“ (Winter) und „Handel der Gefühle“ (Frühling) aus Leonardo Paduras „Havanna-Quartett“ und, bitte unbedingt (!), in dieser Reihenfolge anhören. Teniente Mario Conde steht für die KubanerInnen, die sich den Träumen und Illusionen ihrer Generation stellen (müssen). Ernüchtert von der nachrevolutionären Wirklichkeit stellt er fest, dass nicht nur im kubanischen Alltag, sondern auch beim Parteikader und im Bildungswesen Vetternwirtschaft, Drogenhandel und Betrug blühen. Die in Kuba und auch international prämierten vier Bände des „Havanna-Quartetts“ sind im Unionsverlag als Taschenbücher (á EUR10,20) lieferbar.
Nun steht einem wunderbaren, vom Wetter unabhängigen Aktivurlaub nichts mehr im Wege. Wer schlicht und einfach faul sein will, sei jedoch gewarnt: Vorsicht, Schlafräuber!
Antonio Dal Massetto: Noch eine Nacht. Rotpunktverlag, Zürich 2006, 267 Seiten , EUR 22,70
Pietra Rivoli: Reisebericht eines T-Shirts. Econ Verlag, Berlin 2006, 335 Seiten, EUR 16,50
Rattawut Lapcharoensap: Sightseeing. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 235 Seiten, EUR 9,20
Leonardo Padura: Ein perfektes Leben .
(4 CDs, 330 Min. + Musik-DVD), EUR 18,60
Handel der Gefühle. (4 CDs, 320 Min. + Musik-DVD). Delta Music, Frechen 2006, EUR 18,60
Khaled Hosseini: Drachenläufer. Berlin Verlag, Berlin 2005, 384 Seiten, EUR 10,80